Klaus-Dieter Frankenberger, FAZ:
In Europa haben viele zwar den Wahlsieg Bidens und damit den Abgang Trumps erleichtert, wenn nicht begeistert aufgenommen. Doch das ändert nichts an der Skepsis, mit der die Zukunft der Vereinigten Staaten betrachtet wird. In einer Umfrage des European Council on Foreign Relations bezweifelten Mehrheiten in den elf Ländern, die an der Befragung teilnahmen, dass Biden die inneren Zerwürfnisse Amerikas in den Griff bekommen werde.
Mehr noch: Sie glauben nicht, dass unter dem neuen Präsidenten der Niedergang des Landes auf der weltpolitischen Bühne aufgehalten werden könne. Die Auftraggeber der Umfrage fassten deren Ergebnisse salopp so zusammen: Europäer sehen die Vereinigten Staaten auf dem absteigenden Ast und erwarten auch keinen Wiederaufstieg unter Biden.
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In Deutschland äußerten 55 Prozent der Befragten die Auffassung, China werde binnen eines Jahrzehnts stärker sein als Amerika; in Spanien sind 79 und in Italien 72 Prozent der Befragten dieser Ansicht. Die rasche wirtschaftliche Erholung Chinas im Corona-Jahr 2020 lässt diese Ansicht nicht unplausibel erscheinen.
Die Einschätzung, wie dynamisch sich Machtpotentiale entwickeln, hat eminent folgenreiche politische Nebenwirkungen: Die Ambivalenz gegen Amerika ist spürbar, vielleicht sogar dramatisch gewachsen. Sollte es zu einem Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China (oder Russland) kommen, dann ist mindestens die Hälfte der Wähler dafür, eine neutrale Haltung einzunehmen; in Deutschland sind zwei Drittel dieser Ansicht, ob die nun vernünftig oder allianzpolitisch bedenklich ist von wegen Neutralität in einem Konflikt mit einer kommunistischen Diktatur.
Jedenfalls drückt sich darin der enorme Verlust des Vertrauens in die Vereinigten Staaten aus.
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War China vor nicht allzu langer Zeit weitgehend unter dem Gesichtspunkt wirtschaftliche Attraktivität und Größe des Marktes betrachtet worden, so wird es heute mehr und mehr als systemischer Rivale angesehen: geopolitisch, wirtschaftlich, technologisch, natürlich ordnungspolitisch, im indopazifischen Raum auch militärisch. Chinas „soft power“ ist, anders als seine Claqueure behaupten, gering.
Es ist das Kennzeichen dieses Rivalen, dass er, ähnlich wie Russland, mehr ist als nur das: Er ist auch Partner, er ist Konkurrent, er ist Gegner. Diese Mischung erfordert eine kluge, differenzierte und abgestimmte Politik – von europäischer Seite abgestimmt mit der amerikanischen Regierung und umgekehrt. Deshalb ist der transatlantische Schulterschluss, den sich der deutsche Außenminister Maas für die China-Politik wünscht, vernünftig. Aber dann müssen Alleingänge der einen Seite – Handelspolitik mit dem Holzhammer – und der anderen – Investitionsabkommen auf Spalterart – auch unterlassen werden.