Schockierend stark

Carsten Luther, Die Zeit:

Für den Moment sieht es ein wenig nach der „großartigen Nacht“ aus, die Donald Trump vorschwebte. Gewonnen hat er noch nicht, in entscheidenden Staaten dauert die Auszählung noch an. Und der demokratische Herausforderer Joe Biden hat noch eine Reihe von Optionen, um den Republikaner zu schlagen. Aber die bisherigen Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in den USA zeigen schon jetzt eines: Es wird deutlich knapper, als viele es Donald Trump zugetraut haben. Inmitten der multiplen Krisen, für die dieser Präsident Verantwortung trägt, waren sich Beobachter und Umfragen doch eigentlich sicher: Die Niederlage würde klar ausfallen. Sie alle haben keine großartige Nacht.

Es wirkt wie eine gespenstische Wiederholung der Wahl von 2016. Auch damals hatten ihn alle längst abgeschrieben. Hillary Clinton, hieß es, werde ihn schlagen, sehr wahrscheinlich. Jene, die mit solchen Prognosen ihr Geld verdienen, stürzte der Schock in eine tiefe Krise. Aber diesmal, so stand hundertfach zu lesen, würden die Umfragen besser sein, man habe aus den Fehlern gelernt. Allen, die sich an diesem Morgen von Trumps vermeintlich überraschenden Erfolgen nervös machen lassen, sei gesagt: Auch dies gaben die Voraussagen her. Glauben wollte das vier Jahre später, trotz dieser Erfahrung, fast niemand. Hoffnung ist ein hartnäckiges Gefühl.

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Und doch muss etwas davon verfangen haben, wenn wieder Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner es für das Beste hielten, diesem Mann ihre Stimme zu geben. Sind es dieselben, denen schon lange egal war, wen Trump beleidigte, was er zerstörte und wie er das Land in die Krise zog? Leute, denen vereinzelte Dinge so viel wichtiger sind als kompromissbeladene, kluge Politik? Die etwa nur auf die Besetzung der Gerichte mit unzähligen ultrakonservativen Richtern schauen, die Trump erreicht hat? Oder die tatsächlich fürchten, mit Joe Biden würde der Sozialismus einziehen? Die vor allem nur an sich selbst denken und wirklich glauben, die Abschottungspolitik dieses Präsidenten und seine Steuersenkungen würden ihnen helfen?

Was auch immer sich Trump in vier Jahren im Amt an Skandalen und Angriffen geleistet hat, auf alles, was das Land zusammenhält: das Recht, die Demokratie, die Gesellschaft – im Grunde hat es ihm nie geschadet. Und spätestens nach dem gescheiterten Amtsenthebungs­verfahren muss es ihm zu Kopf gestiegen sein. Und wenn selbst sein desaströser Umgang mit der Pandemie für viele Wählerinnen und Wähler nicht den Ausschlag gegeben hat, sich von ihm abzuwenden, ist der Schaden, den er angerichtet hat, vielleicht noch schlimmer als befürchtet.

Ω Ω Ω

…so wie es jetzt steht, mit wahrscheinlichen Siegen in Florida, Georgia und North Carolina und engem Wahlausgang in umkämpften Staaten wie Ohio, Pennsylvania oder Wisconsin, ist er nicht mehr völlig abgeschlagen. Allein das ist schon eine traurige Entwicklung, die nicht nur seinen Gegnern in den USA große Sorgen machen muss.

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